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Erinnern und mahnen – die Weltkriegsschauplätze in Flandern

Der Tyne Cot Friedhof in Flandern

Mir ist so kalt. Den ganzen Tag prasselt der Regen auf Flandern hinunter. Meine Schuhe sind inzwischen durchweicht und meiner Hose geht es nicht viel besser. Ich will nur noch ins nächste Hotel, unter eine heiße Dusche. Oder wenigstens ins Auto zur Heizung. Stattdessen stehe ich aber in der Nachbildung eines Gefechtsgrabens aus dem 1. Weltkrieg und mache mir Gedanken über kollektive Schuld und kollektives Erinnern.

Wenn mich schon dieser Tag im Regen zermürbt, wie muss es erst für die Soldaten des 1. Weltkrieges gewesen sein? Vier Jahre lang waren sie in Schützengräben gefangen. Um sich herum Maschinengewehrfeuer und Gefechte, bei Sommerhitze genauso wie bei eisiger Kälte im Winter.

Ich habe kein Recht rumzujammern, denke ich mir. Einen Tag im Regen stehen ist Nichts gegen das, was die Soldaten und auch die Bevölkerung in Flandern erlebt haben. Und außerdem: Ich fühle mich gewissermaßen schuldig, weil „wir“ ja immerhin die Kriegstreiber waren. Dieses „Wir sind Schuld“ ist natürlich sehr abstrakt gedacht, stamme ich doch aus einer Generation, die keinen Krieg erlebt hat. Und was verbindet mich heute noch mit dem Deutschen Kaiserreich, wenn ich persönlich doch den Nationenbegriff in Zeiten eines friedlichen Europas für überholt halte?

Viel greifbarer ist da die kollektive Erinnerung: An so vielen Stellen in Flandern begegnen uns Zeugnisse des 1. Weltkrieges:

Entlang der Rolltreppen auf dem Weg hoch zur Dachterrasse des MAS in Antwerpen wird das Leiden der Zivilbevölkerung während des 1. Weltkrieges dargestellt. Noch bis zum 31. März 2015 zeigt die Fotoausstellung „Exodus“ die Zerstörung, die massenhafte Flucht und auch der Wiederaufbau nach Kriegsende.

In Ypern wurde die gesamte Stadt zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut. Das Nationalmuseum „In Flanders Fields“ von den Geschehnissen des Krieges erzählt. Und am Menin-Tor wird 54.000 Gefallenen aus den Armeen des Commonwealth namentlich gedacht. Hier wird auch deutlich, dass der 1. Weltkrieg Menschen auf der ganzen Welt betraf, wenn man die Bezeichnungen der Regimente und Truppen aus Übersee liest – aus Australien, Neuseeland, Indien… Jeden Abend um 20 Uhr wird hier der letzte Zapfenstreich geblasen – eine letzte Ehrung der Gefallenen.

Und dann sind da noch die vielen, vielen Soldatenfriedhöfe. Vor dem 1. Weltkrieg wurden Gefallene in der Regel anonym in Massengräbern bestattet. Doch mit dem 1. Weltkrieg kam die persönliche Bestattung eines jeden einzelnen gefallenen Soldaten. Und so stehen wir am Tyne Cot Friedhof, um nur ein Beispiel zu nennen, inmitten von 12.000 Kreuzen. Die Namen von 35.000 weiteren Soldaten, die kein bekanntes Grab haben, stehen an der Mauer des Tyne Cot Memorials. Im angrenzenden Dokumentationszentrum wird dargestellt, wie 250.000 Menschen ihr Leben verloren, um 8 km Frontliniengewinn zu erreichen. Diese Dimension ist kaum fassbar.

Der Tyne Cot Friedhof in Flandern

Der Tyne Cot Friedhof in Flandern

Der Nachbau des Gefechtsgrabens, in dem ich stehe, während der Regen und die Eindrücke des Tages an mir nagen, befindet sich in Diksmuide. Er gehört zu dem Gelände des Museums Ijserturm, in dem eine Ausstellung zur belgisch-deutschen Konfrontation im 1. Weltkrieg zu sehen ist. Der heutige Ijserturm, der die Ausstellung beherbergt, ist der zweite Turm an dieser Stelle. Der erste wurde zum Gedenken an die flämischen Soldaten des 1. Weltkriegs 1930 eingeweiht. Dieser erste Turm wurde jedoch 1946 durch einen Sprengstoffanschlag zerstört. Wer jetzt wie ich zuvor stutzt, dass der Turm nicht im 2. Weltkrieg im Gefecht zerstört wurde: Nach dem 2. Weltkrieg gab es eine antiflämische Stimmung in der Bevölkerung, da ein Teil der Flamen im 2. Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert hatte. Aus diesem Grund gab es Kräfte, die kein Denkmal für flämische Soldaten dulden wollten. Diese zerstörten den ersten Ijserturm. Aus dessen Trümmern wurde später das Friedenstor errichtet – ein großes Tor mit der Mahnung „Pax“. Der heutige Ijserturm wurde 1965 eingeweiht. Das Museum Ijserturm mahnt daher gleich in mehrfacher Hinsicht um „Frieden, Freiheit und Toleranz“. Und auch die Losung „Nie wieder Krieg“ ist in mehreren Sprachen zu lesen.

„Nie wieder Krieg“ – das ist die Botschaft des heutigen Tages, besser: der Gedenkstätten in Flandern. Zuviel Schmerz und Leid wurde über diesen Landstrich und wird auch heute noch in den modernen Kriegen über die Menschen gebracht. In Flandern hat der 1. Weltkrieg die Landschaft und die Menschen verändert und prägt sie bis heute. Aber die Mahnmale und Gedenkstätten zeugen eben nicht nur von der Geschichte Flanderns, sondern sind ein Teil der Geschichte aller Menschen. Und so stehe ich im Regen in Flandern und sende im Stillen einen letzten Gruß an die Gefallenen dieser Welt.

Mohnblume im Besucherzentrum "In Flanders Fields" in Ypern

Mohnblume im Besucherzentrum „In Flanders Fields“ in Ypern

Kurzinfos
Von 2014 bis 2018 erinnern zahlreiche Sonderausstellungen und Veranstaltungen an den Ausbruch des 1. Weltkrieges vor 100 Jahren. Viele Informationen dazu findet ihr hier.
Die rote Mohnblume ist das Symbol der Erinnerung. Sie geht zurück auf das Gedicht „In Flanders Fields“ von John McCrae. Das Gedicht und seine Geschichte findet ihr in diesem Wikipedia-Artikel.

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Hinweis: Mit diesem Beitrag nehme ich am Flandern Blog Award 2014 teil.

Update 01.11.2014: Dieser Beitrag ist nominiert für den Flandern Blog Award 2014 in der Kategorie „Kunst und Kultur“. Ich freue mich sehr, wenn ihr hier für mich abstimmt.

5 Kommentare

  1. Liebe Carolin Hinz, wir kamen während einer Fahrradtour durch Flandern nach Ypern. Unfassbar die vielen Soldatenfriedhöfe! Am meisten hat mich das Menin-Tor mit den vielen Namen ergriffen. Vielleicht sollte ich zur Ergänzung ein Buch erwähnen, das ich kürzlich gelesen habe und das die Ereignisse dieser Zeit so gut beschreibt, wie ich es vorher noch nie gelesen hatte: Ken Follet „Der Fall der Titanen“.
    Herzliche Grüße
    Christa Bursch

    • Liebe Frau Bursch,
      vielen Dank für Ihren Kommentar und den Buchtipp – es steht schon lange auf meiner Leseliste.
      Viele Grüße, Carolin Hinz

  2. Liebe Carolin,
    ja, wenn dieses Abstrakte plötzlich sehr konkret und verständlich wird … Ein interessanter Artikel! Ich war im Spätsommer auch unterwegs in Sachen 1. Weltkrieg. Auf dem Friedensweg im Trentino sind wir gewandert, dem dortigen ehemaligen Frontverlauf. Wenn Du lesen magst: http://www.kulturnatur.de/2014/10/07/auf-dem-sentiero-della-pace. Mir gings ganz ähnlich wie Dir – viel zum Nachdenken über das Heute und Hier und über das Damals und Dort. Bei meinem nächsten Belgien-Besuch werde ich sicher mal bis Ypern weiterfahren. Die Mohnblumen sind so schön!
    Viele Grüße, Nadine

    • Hallo Nadine,

      wir sind von Ypern weiter nach Frankreich gefahren und plötzlich waren die Spuren des Krieges überall sichtbar. Vielleicht wären sie uns ohne den Besuch in Flandern nicht so ins Auge gefallen. Deine Erfahrungen in Italien zeigen, wie weitreichend dieser Krieg war. Umso wichtiger ist die mahnende Erinnerung.

      Danke für deinen Beitrag.

      Gruß, Carolin

  3. ich habe Ihnen eine Fotodokumentation zu meiner friedensinitiative „Friedensengel geschickt! Diese zeigt mein Friedensengel geschweißt aus 7200 grablichthülsen, stellvertretend für die 72 Mio toten beider Weltkriege! Dieser wurde und wird aufgestellt zuerst in den Kriegsgedenkstätten der Euregio Maas Rhein, in Lüttich, Maastricht-Margraaten, Hürtgennwald usw.

    Falls Sie weitere Ideen haben oder eine genauere Beschreibung wünschen, freue ich mich auf Ihre Antwort.

    Mit freundlichen Grüßen

    Kurt Abel

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